Kaouther Tabai

Kaouther Tabai ist gebürtige Tunesierin, lebt seit Jahrzehnten in München und erzählt in ihrem Buch „Das kleine Dienstmädchen“ in anrührender Weise vom Leben tunesischer Frauen. Den folgenden Text schickte sie uns im Februar 2011 anlässlich Ereignisse in Tunesien zu:

Es ist Freitag, der 18. Februar 2011, ca. sechs Uhr früh.

Noch ist es dunkel und ein sanfter Nieselregen setzt nach heftigen Wolkenbrüchen ein.

Mein Flieger nach München über Düsseldorf startet um 8 Uhr 10.

Aus dem Radio kommt leise Fairuz’ Stimme, sie besingt Libanons Thymianbüsche, Vogelgesänge und stolze Zedern, klar und fließend wie das Wasser eines Bergbachs ist ihre Stimme, ihre Fans nennen sie Honigfaden.

Ihre Lieder um diese Uhrzeit sind Meditation, so wie ich es von meiner Kindheit her kenne.

Koranrezitation, dann Nachrichten und anschließend Fairuz .

So fängt der Tag im tunesischen Nationalradio wie eh und je an.

Aber was für Nachrichten sind es heute! Nicht irgend ein bedeutungsloses Heuchelei-Telegramm, das der menschenverachtende Mafioso Ben Ali irgend einem Staatsoberhaupt zukommen lässt. Nicht die Mitteilung, dass Leila Ben Ali, die Kleptomanin im großen Stil, am Nachmittag bedürftige alte Menschen im prunkvollen Präsidentenpalast empfangen würde, um ihnen paar Grundnahrungsmittelpakete zu spenden und ihre beispiellose Unverfrorenheit zur Schau zu stellen. Auch nicht die Nachricht, dass heute der Präsident seine Minister-Schar empfängt, die nur das zustimmende Nicken im Chor beherrscht. Nein. Nichts mehr derartiges.

Die Revolution, die großen Umwälzungen, die voll im Gange sind, die andauernden Demos und Manifestationen, im Groben und im Detail, in Tunesien, Ägypten, sowie in Jemen, Oman und Bahrain. In Lybien scheint es auch eine ernste Wende zu nehmen. Wer hätte das gedacht? Das lybische Volk hungert gerade nicht und sein eiserner Revolutionsführer schien ihn voll im Griff zu haben. Das Land zwischen Tunesien und Ägypten hat den Funken gefangen. Das sind Nachrichten!

Jetzt singt Fairuz wieder.

Diesmal werde ich nicht vom Abschiedsschmerz zermartert, weder der Anblick meiner Mutter, die tapfer ihre Emotionen unter Kontrolle hält, noch der Ausbruch der Schizophrenie bei meiner Schwester, noch die drückende Arbeitslosigkeit meiner übrigen Geschwister mit akademischer Bildung oder die unzähligen Familienprobleme können mir was anhaben. Sogar meiner Flugphobie kann ich jetzt die Zunge rausstrecken.

Ein einziges Gefühl ragt über alles Andere: ein intensives Gemisch aus Dankbarkeit und einer bis Dato nie gekannten Leichtigkeit des Seins. Alle anderen Gefühle und Gedanken daneben verblassen im Moment.

Glücklich bin ich für das Weichen einer langen Nacht in meinem Geburtsland. Glücklich bin ich für dieses kleine Land und die subtile Geste, die ihm so großartig gelungen ist, die womöglich dazu beiträgt unser heutiges hässliches Weltbild etwas zu verbessern .

Ich bin dennoch wie immer um diese Stunde am Liebsten still.

Der Taxifahrer ist ein Mann mittleren Alters, gewöhnliches Äußeres, normal gepflegt, weder mürrisch noch übertrieben beredsam. Doch als ich die Maschine nach meiner Wahlheimat München erwähne, legt er los, ohne Punkt und Komma:

„Ich habe eine Bitte, könnten Sie folgende Botschaft an unsere Mitmenschen nördlich vom Mittelmeer übermitteln?

Bitte sagen Sie Ihnen, dass es bei unserem Aufstand einzig und alleine um eine Sache ging: die Würde, die Menschenwürde!

Nicht um Brot.

Nicht um Jobs.

Nicht um Armut. Nein!

Klären Sie sie bitte auf! Denn wir haben immer noch den Eindruck, dass sie uns noch nicht richtig verstehen können oder wollen.

Bouazizi, der 26-jährige arbeitslose Informatiker, hat sich nicht in Brand gesetzt, weil sein Gemüse- und Obstkarren zum x-ten Mal konfisziert wurde. Nein, die Ohrfeige, die er von der Polizistin einkassiert hatte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Die Gewissheit niemals an sein Recht kommen zu können war es.

Der definitive Verlust jeglichen Hoffnungsschimmers auf eine gerechte Behandlung in einem monströs korrupten System waren es. Jasmin-Revolution? Nein.

Klar lieben wir Tunesier Jasmin. Wir Männer stecken die Jasminknospensträuße bei guter Laune hinter das Ohr und unsere Frauen tragen Ketten aus den zarten Blüten in den lauen sternenübersäten Sommernächten. Unsere Kinder vergnügen sich mit dem Pflücken von Jasminblüten und Knospen.

Ja, wir lieben Jasmin, das ist neben Amber, Rosen, Orangen- und Geranienblüten unser Duft.
Aber die Bezeichnung ‚Jasmin-Revolution’ bringt uns in diesem Kontext in Verlegenheit. Wenn wir an das Blut der jungen Märtyrer denken, schämen wir uns für diese überschwänglich irreführende Romantisierung.

Nein, bei aller Liebe zum Jasmin, belassen wir es bei Revolution, trocken, ohne Zusätze. Auch keine Facebook-Revolution. Wobei es nicht zu bestreiten ist, was für ein ungeheuere Katalytische Wirkung bei der Entfachung des Feuers der Revolution diesem Medium zu verdanken ist, aber diese ganze Umwälzung auf einen virtuellen Slogan zu reduzieren ist einfach dumm und ebenso irreführend.

Sagen Sie bitte Ihren Freunden, Kollegen und Nachbarn drüben, dass die Begriffe ‚Freiheit’, ‚Würde’, ‚Demokratie’ universelle Worte sind. Sagen Sie den Nachkommen der Ex-Kolonialherren, dass es höchste Zeit ist zum Umdenken. Demokratie: ‚demos kratia’, haben auch wir das altgriechische Wort im arabischen Geschichtsunterricht mit 12-13 Jahren in der Schule gelernt. Sie können sich nicht weiter so verhalten, als ob diese Begriffe nur für sie Geltung haben und die ganze übrige Welt den Katakomben ihrer Diktatoren überlassen.

The game is over! Sagen Sie es bitte.

Teilen Sie es Ihnen mit, dass es aus ist!

Aus und vorbei! Wir haben die Angst besiegt!

Wenn sie weiter die übrige Welt aus ihrer beschränkten, egomanischen, selbstverherrlichenden, profitgesteuerten Perspektive betrachten wollen, dann haben wir alle bereits verloren. Das wäre schade für alle.

Wir müssen an unseren Wunden weiter lecken und unsere Traumata therapieren, die übrigen blutsaugenden Schachfiguren von Diktatoren sind noch wegzufegen, um wieder frei atmen und in Würde leben zu können. Und das schaffen wir schon.

Sagen Sie bitte, dass wir unsere Minderwertigkeitskomplexe endlich, endlich überwunden haben, und daran arbeiten unsere Köpfe trotz der Empfindlichkeit der gegenwärtigen Lage hoch zu halten. Wir fühlen uns frei, wie Neugeborene und sind alles andere als nachtragend.

Nun sind sie an der Reihe sich mit ihren diversen Phobien und falschen Feindbildern zu konfrontieren und die psychopatische Borniertheit und das Überlegenheitsgetue in Frage zu stellen.

Ein deutscher Dichter sagte (Ich weiss nicht, wenn er meint, vielleicht Brecht): Erst das Brot, dann die Kunst. Wir sagen erst die Würde, dann das Brot und schließlich die Kunst.

Schauen Sie doch, wie transparent diese Welt geworden ist, trotz aller Geheimdienste, Intrigen, Nachrichtenmanipulationen und Wahrheitsbekämpfung! Schauen Sie, wie wir alle in einem Boot sitzen, wenn es einzig und alleine um die Erderwärmung geht oder die Machenschaften krimineller Weltbanken!
Umdenken müssen sie, unsere Mitmenschen aus dem reichen Norden und Westen. Sie könnten auch mal den Versuch wagen ihre verherrlichten einäugigen Demokratien in Frage zu stellen. Sie könnten sich auch ein bisschen mehr Gedanken machen über ihre All-Inclusive-Urlaube.“

Wir erreichen den Flughafen ‚Tunis-Carthage’.

Ich will ihm Bakschich geben, schon wegen meines bombenschweren Koffers, voll mit tunesischen Artischocken, grünen Saubohnen, Minze- und Petersilien-Bündeln, Gewürzen in allen Variationen, Kuskus, Bulgur, Neuerscheinungen und Literaturperlen aus Bücherantiquariaten. Baklawa durfte selbstverständlich nicht fehlen. Der Taxifahrer aber lächelt kopfschüttelnd und beharrt darauf, nur den Betrag auf dem Zähler zu erhalten.

„Ja, das richte ich aus, ich werde die Botschaft nach bestem Gewissen übermitteln“, verspreche ich und greife, sobald ich im Boarding-Raum sitze zu meinem Notizblock und Stift, um das Wesentliche nicht zu vergessen.

„Eine letzte Sache noch, sagt er ganz zum Schluss: Sie sollten bitte auch gefälligst damit aufhören uns ‚Dritte Welt’ zu nennen, das finden wir mittlerweile hier zum Brüllen komisch!

Wir haben zwar viele Probleme, aber wir alle haben doch nur eine Erde, eine Atmosphäre, eine Sonne, eine Welt!

Eine einzige Welt!“

@ Kaouther Tabai, Feb. 2011